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Das harte Lachen
fremder Männer
R. Hugh
Das rhythmische Schlagen der Eisenräder gegen
Stahlschienen hast du im Ohr, während im eintönigen Rütteln
du vor dich hin döst. Aus dem Nichts neben und in dir klingt sanfte
Musik in getragenen Tönen im Takt der Räder. Mama summt. Dahinter
das harte Lachen von fremden Männern.
Dunkelheit schleicht hinter deine Augen, ein Frösteln den Rücken
entlang. Furcht vor Dunkelheit.
Und dann streicht eine Hand über dein Haar. "Schlaf Bubi. Wir
bringen dich nach Hause. Schlaf Bubi." Aber du willst nicht.
Klingen von Glöckchen am Hals von Pferden, das Säuseln des Fahrtwindes.
Du fühlst deine kalte Nase, hörst den Hufschlag auf dem Eis,
im Knirschen des Schnees unter den Kufen ein Singen. Sonnenstrahlen tanzen
über die Helle, und am Hang drängt sich mattes Grauschwarz von
Büschen und Bäumen zwischen das Weiß des Schnees. Galopp,
galopp. "Schneller, Papa, schneller!", rufst du. Und dein Vater
schwingt die Peitsche. Es knallt.
Schwarze Wolken hängen über dir, grelle Blitze zucken den Himmel
entlang. Du wischst dir den Schweiß aus der Stirn. Oder ist es das
Wasser, das der Regen über dich ergossen hat? Das Grün der Weite
scheint sich in Nebel aufzulösen. Alles ist mit einem Hauch von Dunst
überhangen: die Farben, die nichtfarbene Rinde der dunklen Bäume,
der Teich, auf dem sich die Enten zum Schutz vor dem regen zusammengedrängt
haben, das Gras, das eine Spur dunkler leuchtet. Es regnet, und du hörst
eine Stimme in dir singen.
Du gehst durch die Straßen einer Stadt. Der rote Verputz der Häuser
ist grau geworden. "Von der Zeit kommt das", sagen die Leute.
Doch die Sonne scheint, und die Leute sind fröhlich.
Es ist der erste Tag. "Hurra! Für Gotte, Kaiser und Vaterland."
Alle freuen sich über die neue Aufgabe. Aus den Kneipen dringen Musik
und Tabakrauch. Galopp, galopp. "Aus dem Weg!" Galopp. Hufschlag
auf dem Straßenpflaster und das Gerassel beschlagener Wagenräder.
Frauen und Kinder stieben davon, die Männer in ihren schönen,
blauen Uniformen durchzulassen.
Auch du trägst eine Uniform. Aber du weißt nicht, ob du dich
darüber freuen sollst.
Freuen tust du dich über das Stück Brot, das dir gereicht wird
von einer Frau, die am Straßenrand steht und sich den Zug der traurigen
Gestalten ansieht. Du bist eine traurige Gestalt.
Die Häuser sind hier aus behauenen Feldsteinen. Manche sind sehr
schön. Andere waren es, irgendwann einmal, bevor ihr gekommen seid;
jetzt: leere Fensterhöhlen, Mauerreste, innen von Ruß geschwärzt.
Und trotzdem erhältst du Brot. Gleich darauf einen Prügel in
den Rücken. Vielleicht war's der Kolben von einem Gewehr. Du hörst
das harte Lachen fremder Männer in der Ferne. Eine der grauen Uniformen
brüllt dich an. Du verstehst kein Wort. Sie sprechen hier eine andere
Sprache.
Warum können sie nicht so reden, daß du sie verstehst?, fragst
du dich.
Den Pfarrer in der Kirche hast du auch nie verstanden. Aber das Singen
der Engel auf der Empore.
"Das sind Frauen, keine Engel", hat Mama erklärt. Doch
für dich waren es Engel, die von etwas sangen, das du verstehen konntest.
Es war ein Sehnen in ihren Stimmen.
Ob die hier auch Engel haben?, fragst du dich. Und Pfarrer? Doch da hast
du schon wieder geträumt, bist gestolpert, bekommst den Knüppel
zu spüren. Das Stück Brot fliegt in den Dreck. Ein Stiefel zertritt
die Rinde. Es knirscht. Das Brot war hart und alt.
Irgendwo beginnt eine Frau kreischend zu lachen. Irgendwo dringt Marschmusik
aus einem Fenster, und bei der Kirche hörst du die Engel singen.
Deine Engel.
Du möchtest dich hinlegen...
Und du wachst auf in einem Bett, das mit weißem Leinen bezogen ist.
Ein Gesicht lächelt dich an aus dem Schatten, dem Nebel, der deine
Augen umgibt. Ein Lichtstrahl schleicht sich hindurch und zeichnet feurige
Linien in den Raum zwischen dir und dem Gesicht. Es ist das Gesicht der
Frau, die dir Brot schenkte, das Gesicht der Frau, die kreischend lachte,
als dich der Gewehrkolben traf und Stiefel die Brotrinde zermalmten.
"Steh auf", sagte sie, "du bist kerngesund. Geh! Arbeite!"
Und du stehst auf, gehst und schleppst Zuckersäcke, wirfst dir ganze
Schiffsladungen von Baumwolle über. Die schwere Last der Ballen und
Säcke drückt deine Schultern.
Sie drückt auf deine Schultern, während du über die Brücke
gehst. Drüben angekommen, wirfst du dich in den Dreck, läßt
den Sack mit deinen Habseligkeiten davonrollen, die du in den vergangenen
Jahren zusammengestohlen und erbettelt hast. Manches - zugegeben - hast
du auch ehrlich erworben, indem du Menschen erschossen hast und Zuckersäcke
geschleppt, dann Baumwollballen...
Doch das ist jetzt ohne Bedeutung. Du bist wieder zu Hause. Bald. Bald.
Niemand wartet auf dich. Der Wind pfeift kalt vom Grenzfluß her,
und der Weg ist lehmig und aufgeweicht. Dir macht das nichts. Es sind
ja nur wenige Schritte in die Heimat.
Auf den Gleisen steht ein schwarzes Ungetüm, das Dampf ausspuckt.
Wagen auf Speichenrädern hängen daran, und die Farbe, die einmal
grün war, blättert ab. Die Gleise verlaufen parallel zum lehmigen
Weg, ohne Damm, ohne Böschung, ohne Geländer. Einfach so.
Das rhythmische Schlagen der Eisenräder gegen Stahlschienen hast
du im Ohr, während du im eintönigen Rütteln, Stahl gegen
Stahl, vor dich hin döst. Aus dem Nichts hinter deinen Augen kommt
die Schwärze, die man Dunkelheit nennt. Sie tanzt zu einer schrecklichen
Melodie, die Furcht heißt. Sie springt auf und ab, hin und her.
Du willst dich in Sicherheit bringen. Doch sie greift dich, zieht dich
heraus aus den Gräben, durch Drahtverhaue, wo von Granaten zerfetzte
Leiber hängen.
Keine Hände, die dir das Haar streicheln, nirgends eine Stimme, die
dich tröstet: "Keine Angst, Bubi!"
Angst. Angst, das ist, was alle haben. Der Feind steht im Land. Aus den
Kneipen tönt Tanzmusik. Im schummrigen Licht hinter Tabakqualm tanzen
Graue mit euren Mädchen. Du hörst das harte Lachen fremder Männer.
Du hörst sie schreien, die Menschen, hörst, wie sie jubeln.
Der neue König spricht, der neue Kaiser. Seine Stimme aus dem Nichts,
aus der Dunkelheit, die zwischen dem Tageslicht liegt. `Aether', sagen
die Leute, heiße diese Dunkelheit. Es ist eine neue Erfindung. Neu,
wie diese schwarzen Kästen auf Rädern, die immer mehr die Pferde
verdrängen, weil sie mehr ziehen können, sich schneller bewegen.
Wohl fühlst du dich nicht mehr. Und das Rauchen von Tabak hast du
dir auch angewöhnt, drüben, bei den Grauen, wo sie dich gefangen
hielten.
Die Leute schreien, toben, jubeln. Die täglichen Kämpfe um Arbeit
und Geld haben aufgehört. Doch was kümmert das dich? Du bist
bei den Bäumen, beim Gras, bei den Tieren. Du erinnerst dich an den
Knall der Peitsche, die dein Vater schwang, an das Rollen der Donner,
die sich im Tal brachen, wenn sie den Blitzen hinterher jagten. Du erinnerst
dich an das Dröhnen der Geschützdonner, an das Kreischen niedergehender
Granaten und an das Schreien der Kameraden, die starben. Dennoch gehst
du mit festem Schritt über die Felder und säst.
Die schwarzen Kästen auf Rädern kommen jetzt schon bis zu dir
auf's Feld, ziehen lange Staubwolken hinter sich her. Manche sehen aus
wie Kanonen, sind nur viel größer. Kindertrupps marschieren,
braune Schlipse umgebunden, mit Fähnlein über die Wiesen. Sie
singen.
Und im Aether hält die Stimme des Königs wilde Reden. Überall
hängen große Bilder vom König: Schnauzbart, Haarlocke
tief in die Stirn. Auch an deine Scheuer haben sie ein Bild gehängt.
Und an deine Nachbarn teilt man gelbe Sterne aus, die sie auf den Mänteln
tragen müssen. Es ist nur, damit jeder sieht, daß sie Nachbarn
sind.
Im Aether hörst du auch eine Stimme singen. Es ist eine Frauenstimme,
doch so tief, wie die eines Mannes - und so rauh, so zärtlich rauh.
Sie singt vom Glück.
Wieder gehst du durch die Straßen deiner Stadt. Die Häuser
haben alle schwarze Vorhänge in den Fenstern. Und die Leute stehen
Schlange vor den Geschäften.
Auch du stellst dich in eine Schlange. das ist tausende von Kilometern
weiter. Du willst auch von der Fleischbrühe haben, die die Kameraden
organisierten. Schnee fällt. Und nachts ist es kalt..
Der Horizont spuckt Feuer. Pausenlos. Rund herum. Doch dieses Feuer bringt
nicht Wärme, nur den Tod. Mancher ist im Schnee erfroren.
Die Stimme, die euch hergehetzt hat, sie hat euch allein gelassen. Und
hinter dem Horizont stehen andere wie ihr, die sich Rote nennen, und speien
ihr Feuer über euch aus.
Wieder geht es in einem traurigen Zug einer ungewissen Zukunft entgegen.
Tausende von Euch sind nicht mehr dabei. Sie sind dort geblieben, wo ihr
um eine Tasse Fleischbrühe anstandet.
Es gibt keine Frauenhand, die euch Brot hinhält. Hier gibt es kein
Brot, das man wieder verlieren kann. Es gibt auch keine Gewehrkolben in
den Rücken. Wer umfällt, bleibt liegen. Der Schnee hat schon
viele geholt. Vielleicht holt er auch dich.
Doch zunächst sitzt du in einer Hütte aus Holz. Dort ist es
wenigstens warm. Es gibt kleine Tierchen, die dir den Hals streicheln,
und einen kleinen Kanonenofen.
Hundert Meter Schnee weiter steigt sanft ein Hügel gegen den Himmel.
Bäume mit silbriger Rinde, schwarze Schatten, schlank über gefrorenem
Weiß.
Die Rentiere haben leider keine Glöckchen umgebunden. Sie sind frei.
Sie gehören niemandem.
Und dann, obwohl du es während der kältesten Nacht im Jahr darauf
dachtest, hat dich Väterchen Frost doch nicht geholt.
An irgendeinem Tag kommst du in eine große Stadt. Die Soldaten,
die sich die Roten nennen, haben dich geholt und mitgenommen. Du bist
mit der Eisenbahn gefahren, viele Tage, hast vor dich hin gedöst,
hast dich gefragt, was nun geschehen werde.
Zwischen Schutt und Asche seid ihr angekommen, und die Soldaten haben
dich zwei Männern in schwarzer Lederkleidung übergeben, die
dich in ein Auto setzen und sagen: "Schau dich um!"
Kinder wühlen in den Trümmern, ziehen Handwagen hinter sich
her. Plätze mit goldenen Kirchturmdächern wechseln sich ab mit
Feldern verkohlter Dachfirste.
Und dann siehst du die Wände stürzen, hörst wieder Donnergrollen.
Die Nachbarn mit den gelben Sternen stehen im Feuer. Sie werden auf offener
Straße verbrannt, werden verbrannt wie Abfallholz, bei noch lebendigem
Leibe. Ein Soldat treibt eine alte Frau, die den Flammen entfliehen will,
wieder zurück ins Feuer. Und du siehst sie aufgestapelt, übereinander
geworfen, in Gruben, in Häusern mit hohen Kaminen.
"Das habt ihr getan", sagen die Ledermänner, die dir solche
Bilder zeigen. "Doch dir verzeihen wir. Wir werden dich bald nach
Hause bringen."
Doch was du findest ist nicht dein Zuhause. Da sind keine Wälder,
keine Pferde, kein Peitschenknall. Nur deine Haut, die brennt, wenn sie
dich schlagen. Und neue Bilder. Viele Bilder. Auch Bilder von dir selbst.
Eine Flut!
Später. Tage? Wochen? Du sitzt in einem jener Flugzeuge, die es jetzt
gibt. Du begreifst das nicht. Das geht alles zu schnell.
Tief in dir hörst du die Engel singen. Sie singen ihr Sehnsucht-Lied.
Klingen nach Weite und Ferne. Harfenklänge zwischen dem Brummen der
Motoren, gleichmäßig, einschläfernd. Du träumst.
Der Mann in der fremden Stadt, der dich freigelassen hat: "Du bist
zum Staatsmann bestimmt - nein... viel besser, zum Strohmann." Er
lacht. Du verstehst ihn nicht recht, bist verwirrt. Aber das ist auch
nicht wichtig.
Das Stroh zu Hause müßte jetzt trocken zum Einlagern sein.
Auch das ist egal. Darum kümmern sich jetzt die Jungen, in kollektiver
Arbeit, was immer das ist. Der Mann hat es dir erklärt, und du hast
gesehen, daß es gut ist. Es ist gut, weil sie es sagen, die schwarzen
Ledermänner. Sie haben dir in die Augen geschlagen. Also muß
es wohl stimmen. Dann haben sie dir eine Zigarette zwischen die Lippen
gesteckt und dich freigelassen.
Wieder einmal ist es zu Ende.
Du träumst.
Oder träumst du das jetzt nicht mehr? Durch deine Stadt haben sie
eine Grenze gezogen, so stark wie aus dicken Mauern. Die roten Häuser
gibt es nicht mehr. Sie sind Trümmer. Und täglich fliegen Flugzeuge
über die Stadt, werfen Päckchen mit Rosinen und Kohlen ab.
Zum Staatsmann haben sie dich nicht gemacht. Das war nur im Traum. Aber
sie haben dir einen Auftrag gegeben. Und - sie haben dich gewarnt.
Täglich lauschst du der Stimme im Aether. Der Stimme des Mädchens.
Du schreibst auf, was du hörst: "Zwo-fünef-fünef,
acht-vierr-zwo-vier, drei-eins-eins-fünef."
Und du tust, was sie sagt. Man kann nicht klagen über dich. Ein williger,
älterer Mann, zwei Kinder, fünf Jahre verheiratet, fünf
Jahre im Betrieb.
Jetzt wirst du gewählt, ein williger Mann, in den Betriebsrat. Gegen
die Bosse, mit den Bossen, immer dorthin, wo am meisten rausspringt. Du
weißt, was gut ist, du weißt, was falsch ist, aber schließlich
tust du doch, was die Stimme des Mädchens verlangt. Sie haben dich
gewarnt: "Zwo-fünef-fünef", acht Jahre, vier Monate
lang, vierundzwanzig Stunden am Tag.
Nichts als das rhythmische Schlagen von Eisenrädern gegen Stahlschienen
unter dir. Aus dem Nichts die Dunkelheit, die du fürchtest. In Erinnerung
das Klingeln der Rentierglöckchen. Ach nein, Rentiere tragen keine
Glöckchen. Nur Pferde im Winter vor dem Schlitten. Aber Pferde gibt
es nur noch als Attraktion für Touristen. Über den Aether werden
wieder große Reden gehalten. Überall kleben Bilder von dem
Mann, den du jetzt auf seinen Reisen begleitest. Auch an deinen Betrieb
haben sie welche gehängt.
Du selbst bist alt. Aber sie haben dich ausgewählt, ihn zu begleiten.
Ja, ja, sie brauchen dich: Zwo-fünef-fünef... Peitschenknall,
Donnerrollen.
Immer die Furcht vor der Dunkelheit. Immer die Furcht vor dem Kessel,
wenn die Flammen am Horizont stehen, sich über den Himmel ausbreiten.
Dazwischen große Zylinder: Raketen, die noch größeres
Feuer in sich bergen. Ob sie es eines Tages über den Ozean tragen?
Du hast Angst. Ob sie eines Tages über den Hügel kommen, aus
dem weißen Land mit den silbernen Baumschatten?
"Bubi", sagt die zärtlich rauhe Stimme und streichelt mit
knochenharten, grauen Fingern dein schütteres Haar. Es ist Seine
Stimme. Die Stimme der Wahrheit, die Stimme, die alles sagt, alles sieht,
alles macht. "Tut mir leid", flüstert sie, "aber am
Bahnhof wartet schon der schwarze Kasten, der dich zu Grabe fährt."
Schlagen von Wagentüren. Das harte Lachen von fremden Männern.
Die eisernen Reifen um deine Handgelenke schnappen zu. Und du kannst dir
nicht einmal an die Brust fassen, als dein verbrauchtes Herz zu rasen
beginnt und dann den Dienst quittiert.
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