Spion

 

R. Hugh

 

Eigentlich war es kaum verwunderlich, daß dieser Kälteeinbruch gekommen war. Schließlich hatte es in diesem Jahr noch keinen richtigen Winter gegeben. Der Schnee fiel in feiner, pulvriger Form. Ungewöhnlich.
Ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht. "Noch ganze zehn Tage bis Frühlingsanfang", redete er mit sich selbst. "Wenn ich mich nicht verrechnet habe." Kalender hatte er schon einige Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Er blickte die kalte, düster wirkende Siedlungsstraße hinunter. Der Wind fegte an den grauen, eintönigen Häuserfassaden entlang. Man spürte direkt, wie hart alles gefroren war. Kleine weiße Wirbel aus Schnee bildeten sich über dem Asphalt.
Rijan fragte sich, warum niemand auf der Straße war. Gewiß, das Wetter war nicht gerade freundlich, aber in solch einer Siedlung hätten um diese Tageszeit doch Menschen zu sehen sein müssen, Kinder, die aus der Schule nach Hause kamen, Mütter mit Einkaufsnetzen, ein Postbote vielleicht... Doch nein: alles wirkte wie tot. Kein Geräusch außer dem Heulen des Windes und dem Klacken seiner Fußtritte.
Sie werden sich in den Häusern aufhalten, dachte Rijan. Grund genug haben sie ja. Es ist affenkalt. Rijan zog den langen, nicht sehr gut sitzenden Mantel enger um seine Schultern. Der Mantel war dreckverschmiert und feucht. Feucht von den Schneeflocken, die durch seine Körperwärme schmolzen.
Auf der Straße schmolzen die Flocken nicht. Die Straße war trocken und der Schnee blieb liegen, wenn ihn der Wind nicht wegblies. Frost, dachte Rijan.
Langsam wanderte er die Straße hinunter. Links und rechts Wohnblocks, drei, vier Stockwerke, Beton, kalt, kahl, grau. Typische Vorstadtsiedlung. Rijan fragte sich, wo die eigentliche Stadt dazu sich wohl befinden mochte. Nichts deutete darauf hin, daß sie in der Nähe war. Überall rund um die Siedlung freies Land.
Rijan schaute die Häuserreihe entlang, den Weg zurück, den er in die Siedlung gekommen war, dann hinauf in den Himmel. Ein blaugrauer, stahlkalter Himmel mit weißen Schlierenwolken. Man konnte nicht sagen, ob die Sonne schien oder nicht. Ebensowenig konnte man sagen, daß der Himmel bedeckt war.. Dieses Licht hatte Rijan zuletzt in den Bergen gesehen, wenn der Wind die Wolken weggedrückt hatte, die Sonne aber zu tief stand um in die Täler zu scheinen
Sein Blick ging zurück zur Straße, zu den kümmerlichen Rasenquadraten, die entlang der Häuser angelegt worden waren. Sehr grün ist das Gras aber nicht, dachte Rijan bei sich.
Er war stehen geblieben und betrachtete die kleine Grasfläche direkt vor sich. Erstaunt beugte er sich nieder und lächelte. "Schneeglöckchen!" Er freute sich. Hier in dieser Beton-Einöde wuchsen Blumen. Rijan ließ sich auf die Knie nieder. Um seine Hosen kümmerte er sich dabei nicht. Sie waren so oder so dreckig, zerrissen und vielfach geflickt. Wenn sie's nicht mehr taten, würde irgend jemand ihm schon neue schenken. So war es bisher immer gewesen.
Er hörte Motorenlärm und blickte auf. Weiter die Straße hinunter bog schleudernd ein großer, schwarzer Wagen um die Ecke. Das Auto beschleunigte, kam rasch näher. Rijan wollte sich wieder dem Schneeglöckchen zuwenden, doch da quietschten schon die Reifen auf dem Asphalt und der Wagen hielt hinter ihm am Straßenrand.
"Da ist noch einer", hörte er einen der beiden Insassen zum anderen sagen. Zwei Männer in schwarzen Lederuniformen, von denen einer ausstieg und zu ihm kam. "Kommen Sie, kommen Sie! Was machen Sie hier noch, Mann?", schrie er. Rijan schaute ihn verständnislos an.
Der Mann eilte auf ihn zu, packte ihn am Arm, zog ihn hoch, schaute ihn mißbilligend an. Der andere Mann wartete im Wagen, dessen Motor weiterlief.
"Bitte?", fragte Rijan. Doch der Schwarzuniformierte zog ihn einfach auf den Wagen zu. "Die Wetterbombe", sagte er nur, als damit alles erklärt wäre. Und: "Kommen Sie endlich, Mann!"
Er öffnete die Wagentür und stieß Rijan auf den Rücksitz. Und nachdem er die Tür hinter ihm zugeschlagen hatte, lief er um den Wagen herum, stieg auf der anderen Seite ein, setzte sich neben ihn. Der Platz neben dem Fahrer blieb leer.
"Abfahrt!", befahl der Mann. Und der Fahrer gab Gas.
"Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?", fragte der Fahrer nach hinten. "Das ganze Gebiet hier ist evakuiert.!"
Rijan blieb zunächst stumm, wagte dann aber doch zögernd zu fragen: "Was, bitte, ist das, eine Wetterbombe?"
"Waas?!" Der Uniformierte neben ihm schaute ihn entgeistert an. "In dieser Gegend", sagte er mehr zu sich selbst und zu seinem Kollegen, als zu Rijan, "in dieser Gegend wird in Kürze ein Wirbelsturm Löcher in den Boden fräsen und mit den Häusern Bauklötzchen spielen, und dieser Mensch hat den Nerv..."
Mann, das gibt's doch nicht", stöhnte der Fahrer.
"Ein Wirbelsturm in diesen Breiten?" Für Rijan klang das unglaubwürdig. Und dann auch noch mitten im Winter. Also so was.
"Lesen sie eigentlich keine Zeitung, und hören sie keine Nachrichten im Radio, Mann?" Der Uniformierte neben Rijan schüttelte den Kopf. "Da ist in den Gazetten seit Wochen kaum ein anderes Thema zu lesen, in jeder Fernsehsendung wird über die Versuche gesprochen, und der fragt: 'was bitte ist eine Wetterbombe?'" Er versuchte Rijans Stimme nachzuäffen. "Mann oh Mann, wo kommen Sie her? Dies ist ein militär-wissenschaftliches Sperrgebiet. Hee...?"
Mit einem Blick in den Innenspiegel des Wagens verständigten sich der Uniformierte und der Fahrer. Rijan war das nicht entgangen. Der Mann neben ihm, wandte sich ihm wieder zu, fragte: "Wie heißen Sie, Mann?"
Rijan schaute ihn nachdenklich an. Er verstand das alles nicht. "Wer sind Sie eigentlich?", fragte der Schwarzuniformierte weiter.
"Alles echt Leder", stellte Rijan fest und berührte zaghaft des Mannes Uniformjacke.
"Sie wissen ja gar nicht, was vor sich geht. Wer sind sie?"
"Ich?" Rijan griff in seine Manteltasche. Irgendwo mußte das Plastikkärtchen sein, das sie jetzt Ausweis nannten. Früher einmal, da hatte es richtige Pässe aus Papier gegeben... Er kramte alle Taschen aus. Irgendwo würde er das Kärtchen schon finden. dachte er wenigstens.
"Ach lassen Sie das", sagte der Uniformierte etwas freundlicher. "Ihr Name genügt vorerst. Und ihr Alter."
"Ich heiße Rijan Merannier. Bin 53."
"In Ordnung." Der neben ihm griff nach vorne über den Beifahrersitz hinweg nach einem Mikrofon. "Wir haben hier einen Mann aufgegriffen...
... Sperrgebiet...
...hauptet 'Rijan Merannier` zu heißen. 53.
Rijan konnte nicht verstehen, was der Gesprächspartner seines Bewachers sagte. Dieser nickte nur ein paar Mal, sagte dazu "okay".
Knopf im Ohr, dachte Rijan.
"Okay ", sagte der Uniformierte noch einmal. Dann: "Was sind Sie?"
"Rijan Merannier", antwortete Rijan, "aber..."
"Nicht wer. Was?! Von Beruf! Was tun Sie? Sind Sie 'n verrückter Reporter oder was? Womit verdienen Sie..."
Rijan dachte an die Schneeglöckchen vor dem Haus in der Betonwüste...
"Ich bin das, was man so allgemein als Landstreicher bezeichnet", antwortete er langsam und bedächtig.
"Aha", meinte der Fahrer, "dachte ich mir's doch. Ein Spion!"
"Nein", protestierte Rijan, "ich..."
"Wir werden ja sehen, Mann", beruhigte ihn der Mann neben ihm und hängte das Mikrofon in die Halterung.
Der Wagen raste mit wahnsinniger Geschwindigkeit aus der Siedlung hinaus.

 

© 1973/1985

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ernst-walter hug
schwäbisch hall

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