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Fahrah
R. Hugh
Triptychon: An den Grenzen der
Welt - 3
Schreiend rannte Fahrah durch
das Lager, die nackten Füße beschmutzt von Matsch, den die
Räder von Karren und viele hundert Tritte von Zugtieren und Menschen
weichgetreten hatten. Wochenlang hatte es geregnet, und immer noch strömte
Wasser von den Bergen. Wo sich zuvor eine Salzwüste ausgedehnt hatte
erstreckte sich jetzt ein See. Von weit her hatten sich die Menschen zur
Stadt geflüchtet, nachdem die Wasser der nicht enden wollenden Regenfälle
ihr Land davon-geschwemmt hatten. Von den Stadtleuten nur widerwillig
gelitten, hatte man ihnen weit vor dem Stadtgebiet ein Areal zugewiesen,
auf dem sie ihre elenden Hütten und Zelte aufgeschlagen hatten. Eingezwängt
zwischen dem neuen See und dem umzäunten Gelände des Flughafens
hausten Tausende, warteten darauf, daß irgend etwas geschehe. Aber
wenig passierte.
In langgezogenen Tönen klangen Fahrahs Schreie durch das Lager. Frauen
riefen ihre Kinder zurück, die an schlammigen Pfütze gespielt
hatten. Selbst die Ziegen rannten vor Fahrahs Schreien davon. Männer,
die schwatzend zusammenstanden oder irgendwelchen obskuren Geschäften
nachgingen, schauten auf, wandten dann die Gesichter wieder ab. Niemand
wollte sich ungehörig benehmen und durch neugieriges Starren Fahrahs
Eltern beleidigen. Sie tauschten untereinander verstehende Blicke aus,
murmelten eine Bitte an Allah, Ihnen doch zu helfen. Und im Stillen hatte
jeder Gedanken an Rache. Rache an den bösen Fremden für all
das Leid, das sie ihnen angetan hatten.
Abwehrend hob Fahrah die Arme gen Himmel, schrie erneut, gellend und schrill.
Wimmernd ließ sie sich in den aufgewühlten Dreck fallen, die
Arme schützend über ihr Gesicht gelegt.
Niemand kümmerte sich um das Mädchen. Fahrah war verrückt.
Man munkelte, sie habe den Blitz gesehen, im Norden, woher sie mit ihren
Eltern gekommen war. Jeder sprach vom Blitz - ehrfürchtig vom Tod,
den er so vielfältig gebracht hatte - aber niemand sonst hatte ihn
wirklich gesehen. Niemand, außer Fahrah. Und sie war verrückt
geworden. Besser, man machte einen großen Bogen um sie und die Hütte
ihrer Eltern. Wer wußte schon, was Kontakt mit ihr für Folgen
haben konnte. Man hörte schreckliches über Leute, die den Blitz
gesehen hatten. Die Haare gingen ihnen aus. Ihnen und allen, die sie berührten.
Die Haut ging ihnen ab, überall da, wo andere sie berührten,
so daß das Fleisch und gar die Knochen blank lagen, wo sich Fliegen
am faulenden Fleisch gütlich taten. Die Kranken konnten nichts mehr
bei sich behalten, kein Essen, kein Wasser. Und bald starben sie. Die
Leute aus der Stadt hatten solche Geschichten erzählt. Und Siva Yoatawi,
der Doktor.
Eigentlich war er gar kein Doktor. Aber alle nannten ihn so. Sanitäter
war er gewesen, im Krankenhaus der Fremden in der Stadt. Er war der einzige,
der sich regelmäßig um die Leute im Lager kümmerte. Auch
um Fahrah und ihre Eltern. Er schien keine Angst zu haben.
Der fremden Ärztin in der Stadt, der Siva Yoatawi von Fahrah erzählt
hatte, hatte er versprechen müssen, das Mädchen baldmöglichst
mit zu bringen. Dr. Wei hatte Interesse daran gezeigt, Fahrah zu untersuchen.
Doch Siva Yoatawi zögerte, Fahrahs Eltern darauf anzusprechen. Sie
schien ihr einziges Kind zu sein. Jedenfalls hatte er bei keinem seiner
Besuche je andere Kinder in der ärmlichen Hütte angetroffen.
Die Regeln des Komitees hätten es zwar gestattet, Fahrah von ihren
Eltern zu trennen, doch die jetzt abgehaltenen ersten Wahlen boten Siva
Yoatawi einen viel glaubwürdigeren Anlaß, an Fahrah heranzukommen.
Unsinn nannten die Leute im Lager die Wahlen. Aber wenn sie dann an die
vielen Regeln und Vorschriften des Komitees dachten, dann fanden sie die
Möglichkeit doch wieder gut, vielleicht das eine oder andere Mitglied
abzuwählen. Und möglicherweise könnte man auch jemand aus
dem Lager ins Komitee wählen. Die Diskussionen uferten regelmäßig
aus, wenn von der Wahl die Rede war. Und die Männer steigerten sich
in Phantasien hinein, was solch ein Deputierter alles tun könne für
das Lager und wie er's den anderen Mitgliedern im Komitee zeigen würde.
Manche dachten, Siva Yoatawi sei dafür gut geeignet, da er als einer
der wenigen regelmäßig in die Stadt kam. Erstens hatte er,
um hinzugelangen, ein Auto und zum anderen auch einen Passierschein, um
an den Straßensperren durchgelassen zu werden. Es wurde viel diskutiert,
wenn die Männer zusammenstanden. Vor allem die älteren hielten
nicht viel vom sogenannten Komitee. Revolutionskomitee! Pah! Junge Leute
waren das, die den Lehren der ungläubigen Fremden folgten. Deren
unseliger Geist lebte weiter in den Wracks ihrer Flugmaschinen, die ausgebrannt
hinter wucherndem Gebüsch, hinter Schutthügeln und einem rostigen
Zaun auf dem ehemaligen Flugfeld herumstanden. Es gab im Lager sogar Männer,
die behaupteten, die Fremden seien gar nicht tot, sondern lebten als Geist-Menschen
an einem geheimen Ort in der Stadt, und sie seien es in Wirklichkeit,
die die Geschicke der Stadt bestimmten, nicht das Komitee. Sie seien also
auch verantwortlich für den Unsinn, in solch schlimmen Zeiten Wahlen
abzuhalten. Doch Genaues wußte niemand, und der Doktor schwieg,
wenn man ihn fragte, zuckte nur mit den Schultern, sagte, sie sollten
sich nicht den Kopf der Städter zerbrechen und froh sein, daß
man sie hier im Lager wohnen und leben ließ.
Fahrah lag im Dreck und kreischte. Mit gespreizten Fingern wehrte sie,
die Hand schützend vor die Augen gehoben, den schwarzen Vogel ab,
der laut brüllend über die Hügel geflogen kam. Gleich,
gleich würde es wiederkommen, das grelle Licht, die Sonne in der
Nacht! Fahrah kreischte, krümmte sich, wühlte im Schlamm, wollte
nichts, als daß das Licht ging und nie mehr wieder käme.
Motorengeräusch kam näher.
Es war Mehill'h Ngoro in seinem Auto. Er war neben dem Doktor der einzige
im Lager, der ein Auto besaß. Vor der Katastrophe hatte er für
die Amerikaner gearbeitet, hatte Aufseher und Direktoren zwischen Hafen
und Uranmine durch die Wüste chauffiert.
Alle Leute glaubten nun an seine guten Beziehungen, nur weil das Komitee
ihn über die Amerikaner befragt und ihm danach das Auto nicht weggenommen
hatte. Mehill'h Ngoro ließ die Leute in ihrem Glauben. "Fragt
doch den Doktor", pflegte er zu antworten, wenn er direkt auf das
Komitee angesprochen wurde und darauf, wie es in der Stadt so zuging.
"Er ist der offizielle Vertreter des Komitees."
Der Doktor war auch der einzige, der immer genug Benzin für sein
Auto hatte. Mehill'h Ngoro dagegen war ständig auf der Suche nach
Treibstoff, wenn er mal einen Passierschein für die Stadt oder den
Hafen bekam, um irgendwelche Dinge für den Doktor oder andere Leute
mit genügend Geld und Beziehungen, die es im Lager auch gab, zu transportieren.
Einen Taxidienst in die Stadt aufzuziehen, davon träumte er. Irgendwann,
wenn die Zeiten einmal besser würden.
Im Augenblick quälten sich die Räder seines Autos durch den
Schlamm zwischen den Hütten, der sich Straße nannte. Es hatte,
wieder mal zur Unzeit, geregnet und das Wasser konnte im Lager nirgends
richtig abfließen. Mehill'h drückte auf die Hupe, als er Fahrahs
liegende Gestalt im Matsch bemerkte. Doch das Mädchen rührte
sich nicht. Fluchend trat Mehill'h auf die Bremse, brachte den Wagen zum
Stehen, stieg weiter vor sich hinfluchend aus, weil er genau wußte,
wie schwierig es war, das Auto in dem Matsch wieder in Bewegung zu setzen.
Erneut schrie Fahrah. Gleich, gleich würde es kommen, das grelle
Licht.
"Komm, Kleine", sagte Mehill'h Ngoro, beugte sich zu Fahrah
hinunter, versuchte sie hochzuziehen. Doch weiter als in sitzende Stellung
brachte er sie nicht. Fahrah weinte und die Tränen zogen eine helle
Spur durch ihr schmutziges Gesicht. Mehill'h schaute sich nach Hilfe um,
sah unweit einen Mann mit einem Reitvogel die Straße überqueren.
"He, Alil," rief er, "ich will Fahrah nach Hause bringen.
Komm und hilf mir." Alil schaute nicht einmal herüber. "Das
ist deine christliche Pflicht der Nächstenliebe!", schrie Mehill'h.
Er war stolz darauf, der einzige Christ im ganzen Lager zu sein.
Alil Nurasowisi blieb stehen, betrachtete kurz die Szene, als habe er
vorher überhaupt nichts bemerkt. Dann sagte er: "Du bist der
Christ. Ich muß erst Isi'aRa versorgen." Mit der Zunge schnalzend
wandte er sich ab und führte den durch den Schlamm stelzenden Vogel
zwischen den Hütten davon.
Wasser spritzte nach allen Seiten davon, als Siva Yoatawi etwas zu schnell
durch die große Pfütze fuhr, die der Regen am Eingang des Lagers
hinterlassen hatte. Die Bremswirkung des Wassers, das tiefer war, als
erwartet, riß ihm beinahe das Steuer aus den Händen. Siva Yoatawi
fluchte und gab noch mehr Gas. Dreck spritzte. Aber das tat dem Wagen
keinen Schaden an. Er war schon über und über mit Dreck bespritzt.
Auch in der Stadt waren die meisten Wege nach dem Regen nicht besser,
sofern sie nicht gerade eine dicke Teerschicht hatten, die noch nicht
von zahlreichen Schlaglöchern durchbrochen war.
Etwas langsamer fuhr "der Doktor" durch das Lager. Doch obwohl
er auf dem Hauptweg blieb und sich nicht in die schmaleren Wege zwischen
den Hütten wagte, rutschte das Heck seines Wagens mehrmals weg, als
die Räder kaum noch Halt im schlammigen Untergrund fanden.
Siva Yoatawi grüßte nach links, grüßte nach rechts,
wenn er an Bekannten vorbeifuhr. Die Männer grüßten zurück,
die Frauen verschwanden wie üblich in ihren Hütten, zogen ihre
weiten Gewänder schützend zusammen, wandten die Gesichter ab.
Einige Kinder warfen mit Steinen. Nicht weil sie den Doktor nicht gemocht
hätten, sondern weil für viele von ihnen Steine das einzige
Spielzeug waren. Ziegen, Hunde und andere Haustiere wichen solchen Wurfgeschossen
aus, Yoatawis Auto aber bekam Beulen ab.
Er wartete nur darauf, daß eines Tages ein Stein zu groß oder
spitz sein würde und eine Scheibe am Auto zu Bruch ging. Die Leute
vom Fahrdienst des Komitees würden fluchen und ihm heftigen Ärger
machen. Ersatzteile waren knapp und kostbar, seit es keinen Nachschub
aus Übersee mehr gab.
Yoatawi ruckelte mit seinem Wagen ganz ans andere Ende des Lagers, bog
erst in die letzte der Seitengasse ab und stoppte an der vorletzten Hütte.
Niemand hielt sich hier auf der Straße auf. Und als Siva Yoatawi
ausstieg und sich umschaute, konnte er nur draußen bei den Hügeln
im Nordwesten die Silhouetten einiger Kinder ausmachen. Sie spielten dort,
wo jetzt der See begann, der sich nach den Regenfälle der vergangenen
40 Tage gebildet hatte. Piloten der Miliz, die ihn überflogen hatten,
meldeten, er reiche bis hin zu den Bergen.
Siva Yoatawi stapfte die wenigen Schritte durch den Matsch zur Hütte,
öffnete die Tür und trat ein.
Drin im Halbdunkel huschte eine Gestalt davon. Yoatawi begrüßte
die Frau, rief ihr nach, er wünsche ihren Mann zu sprechen. Hinter
den Decken, die von einem Seil hingen und den Raum unterteilten, rumorte
es. Dann klappte eine Tür, wohl eine weitere, die hinten aus der
Hütte ins Freie führte.
Yoatawi wartete. Dann klappte die Tür wieder, und hinter den Decken
begann es zu rascheln und rumoren. Eine Schüssel klapperte, Wasser
plätscherte und eine Weile später kam der Mann, noch ein Handtuch
in Händen, nach vorne. Eine andere Hand stupfte ihn von hinten an,
der Bauer schaute hin, gab der Hand das Tuch und kam dann auf Yoatawi
zu. "Doktor! Sei gegrüßt!"
"Wie geht's?", fragte Yoatawi "Habt Ihr genug zu essen?
Seid ihr alle gesund?"
"Was soll man schon sagen, Doktor, in Zeiten wie diesen. Wir haben
ja alles verloren. Die Landwirtschaft war kärglich, im Norden. Ein
bißchen Vieh, ein wenig Nüsse und Obst, ein paar Felder Gemüse.
Aber wir hatten zu essen. Jetzt ist alles weggeschwemmt." Der Bauer
schüttelte den Kopf. "Und dann: die Tochter...", sagte
er.
"Wart ihr bei der Wahl, Bauer", unterbracht Siva Yoatawi, "du
und deine Familie?"
Der Mann schaute auf. "Aber sicher Doktor. Auch meine Frau, wie Sie
es gesagt haben und das Komitee es will."
"Und Eure Tochter?"
"Aber Doktor. Das Kind ist doch verrückt."
"Sie ist erleuchtet von Allah, dem Allmächtigen. Und außerdem
volljährig. Sie sollte zur Wahl gehen, wie jeder Gläubige.
Allah wünscht einen Staat zu seinen Ehren, sagt das Komitee. Also
soll auch jeder, der darin lebt, seine Stimme abgeben. Jeder! Habt ihr
gehört? Jeder, Bauer!
"Wie ihr meint, Doktor. Aber geht das denn noch? Ist die Wahl noch
nicht abgeschlossen?"
Siva Yoatawi winkte beruhigend. "Sicher, Bauer." Wir werden
für deine Tochter, die Erleuchtete sogar etwas ganz Besonderes arrangieren.
Eine Gruppe von jungen Leuten in der Stadt hat das Fernsehen wieder in
Betrieb genommen. Du weißt doch, diesen Kasten, der Bilder macht."
"Ich habe davon gehört", antwortete der Bauer, "aber
ich habe noch nie einen gesehen. Im Norden hatten wir solche Dinge nicht.
Aber man hat mir gesagt, es sei wie ein Transistor, nur mit einer Fensterscheibe
vorne dran, durch die man dann dorthin sehen könne, wo die Dinge
geschehen, die man sieht."
"Sehr gut beschrieben, Bauer", sagte Siva Yoatawi und machte
eine zustimmende Bewegung. "Und weil viele Leute in der Stadt solch
einen Apparat besitzen, wollen wir ihnen damit zeigen, wie gütig
Allah ein Land regieren wird. So gütig, daß selbst jemand wie
Eure Tochter - sie heißt Fahrah, nicht? - zur Wahl gehen und eine
Stimme für das Komitee abgeben kann. Verstehst du?"
"Jjja", zögerte der Bauer. "Wie ihr meint, Doktor".
Er zögerte kurz und drehte sich dann um und ging ohne weitere Worte
in den hinteren, durch den Teppich abgetrennten Teil der Hütte. Den
Durchgangsspalt hielt er dem Doktor auf, sodaß Siva Yoatawi ihm
folgen konnte. Tatsächlich, da war eine weitere Tür. Gleich
daneben gab es ein Loch in der Wand, durch das Schmutzwasser abfließen
konnte. Eine Schüssel und ein Krug standen daneben. In der Ecke brannte
ein kleines Herdfeuer. Die Frau hockte daneben, ein Stück Holz in
der Hand, mit dem sie wohl gerade im Feuer gestochert hatte. Die Spitze
des krummen Astes qualmte.
öber dem Feuer hing an einem Gestell ein Wassertopf. Dann stand da
noch eine Kiste, daneben eine Rolle, die wohl Bettzeug enthielt, und einige
Kissen lagen auf dem Boden aus gestampfter Erde. Nirgendwo konnte der
Doktor Fahrah entdecken.
Die Frau stand auf, nahm eine Schöpfkelle von der Wand, die dort
an Haken neben anderem Geschirr gehangen hatte, und goß mit dem
heißen Wasser von der Feuerstelle Tee in einem kleine Krug auf.
Den füllte sie nach kurzer Zeit in Schalen und reichte davon eine
dem Bauern, die andere Siva Yoatawi. "Hier Doktor", sagte sie
und fragte dann: "Ihr wollt Fahrah mit in die Stadt nehmen?"
Dankend nahm Yoatawi der Frau die Schale Tee ab und nickte, um ihre Frage
zu beantworten. "Ich hole sie", meinte die Frau, ging zur Tür
und hinaus in einen schlammigen, kleinen Hinterhof. Yoatawi konnte durch
die offentstehende Tür einen Schuppen erkennen und einen Ziegenstall.
Die Frau ging zu dem Schuppen.
Fahrah folgte der Mutter mit aufgerissenen Augen. Die Sonne brannte ihr
auf den Haaren. Doch als sie aufschaute, war da nur grauer, bedeckter
Himmel.
Dunkle Geborgenheit, dort wo Vater und ein fremder Mann saßen und
Tee schlürften. Die Mutter ließ ihre Hand los, ging zur Feuerstelle,
nahm eine Schale vom Bord und goß auch Fahrah dampfenden Tee aus
dem Krug ein, reichte ihn ihr wortlos. Fahrah nahm die Schale entgegen,
nippte daran.
"Du kennst doch den Doktor", sagte Vater.
Fahrah schaute den Mann an. Es war der Mann aus dem grauen Kasten, der
manchmal brummend über die Wege fuhr. Ein grauer Kasten mit Rädern
unten dran und einem grauen Mann innen drin. Ja, ein grauer Mann, ein
Mann aus Stein. Grau. Grau wie der Himmel... Fahrah schüttelte verneinend
den Kopf.
"Aber sicher kennst Du ihn, Fahrah", sagte Mutter und legte
ihr ein Tuch, das einmal weiß gewesen war, um die Schultern.
Wieder schüttelte Fahrah den Kopf. Das Tuch rutschte herunter und
Mutter hob es vom Fußboden auf. "Zieh das Tuch über, Kind",
sagte sie. Du wirst mit dem Doktor in die Stadt fahren. Er wird dir viele
neue Dinge zeigen."
Fahrah hatte Angst, wollte schreien. Aber sie konnte nicht. Stumm, mit
weit aufgerissenen Augen folgte sie der Mutter, die sie nach vorne führte,
hinaus auf die Straße, wo der graue Kasten stand. Der Mann, den
Vater Doktor nannte, öffnete eine Tür. Vater stand daneben.
"Mal sehen", sagte der Stein Mann, "vielleicht kann man
eurer Fahrah in der Stadt helfen. Ich werde mit ihr beim Krankenhaus vorbeifahren,
bevor ich sie zurückbringe."
Mutter hatte sie ins Innere des Kastens gesetzt. Da befand sich ein weiches
Polster. Dann hatte sie ihren Arm los gelassen, und der Steinmann hatte
die Türe geschlossen. Alles war plötzlich ganz still. Vater
und Mutter waren gefangen hinter Glas. Wieder wollte Fahrah schreien.
Und wieder wollte der Schrei nicht heraus. Das vor ihrem Hals geknotete
Tuch hinderte sie beim Atmen. In stummer Geste verzerrte Fahrah ihr Gesicht,
drückte mit den Händen gegen die gläsernen Scheiben, rutsche
mit den Fingern an der glatten Fläche hinab, hinterließ feuchte
Spuren, die sich schnell in Nichts auflösten.
Der Mann aus Stein setzte sich neben sie. Er umklammerte ein Rad und der
Kasten, in dem sie saßen, machte Lärm. Vater und Mutter entschwanden
nach hinten und auch die restliche Welt bewegte sich, glitt langsam nach
hinten davon, schnell, immer schneller. Erst Hütten und Menschen,
dann noch schneller Land, weites Land, das ihnen auf einem hellen Band
entgegen kam, dann seitlich an ihnen vorüberglitt, und irgendwo hinter
dem Kasten verschwand.
Dann kam der große Zaun, hinter dem die schwarzen Ungeheuer der
Geist-Menschen wohnten. Ungeheuer mit metallenen Armen und Fingern. Ungeheuer,
die fliegen konnten und dabei brüllten wie der Sturm, den die böse
Sonne hinterlassen hatte.
Fahrah schaute nach oben, wo der Himmel grau über dem Land hing.
Jetzt war sie fort, die Sonne, die auf ihrem Haar brannte und so hell
durch ihre Augen in ihr Inneres geleuchtet hatte, daß sie kaum noch
denken konnte.
Weites Land.
Dann Häuser. Kleine Hütten zuerst. Dan große Gebäude.
So hoch, daß die Straße zu einem Tunnel wurde. Oben grau,
links und rechts Schatten und unten braun,
Fahrah sah viele Soldaten-Männer mit Gewehren, und große Ungetüme
aus Metall, die sicherlich alles niederwalzen konnten, was sich ihnen
in den Weg stellte.
Das Auto des Steinmannes bog von der Straße ab auf einen großen
Platz, auf dem sogar Bäume wuchsen. Der Himmel öffnete sich.
Und ein große schwarzer Vogel flog brüllend über die Platz
hinweg. Tief. So tief, daß man glaubte, er wolle die Häuser
und Menschen fressen.
Dann war eine grelle Sonne dort, wo sonst der Mond hinter den Obstbäumen
versank.
Fahrah schrie.
Die Welt vor dem Kasten hielt an, und der Stein Mann beugte sich herüber.
Fahrah zitterte.
"Ist doch gut", sagte der Steinmann. "Sei bitte ruhig,
Fahrah."
Sein Gesicht verschwand. Eine Tür ging auf, die Welt wallte als Lärm
herein. Die Tür wurde wieder geschlossen. Dann ging die Türe
auf ihrer Seite auf. Und wieder beugte sich der Mann aus Stein über
sie. "Ist schon gut", sagte er. Dann hob er sie aus dem Wagen
und stellte sie vor dem grauen Kasten auf den Boden. Mit ausgestreckter
Hand zeigte er auf die Menschen unter den Bäumen. "Es sind Leute
vom Fernsehen hier."
Fahrah wollte wieder schreien. Aber der Feuerball war weg und ihr Schrei
geriet nur zu einem Wimmern. Da war nur die Stadt und ein Platz, wo Tische
unter Bäumen standen und Planen aus gebleichtem Tuch über die
Stände gezogen waren. Dicht dabei waren große, sehr hell leuchtende
Laternen auf wichtige Männer in vornehmer, weißer Kleidung
gerichtet. Und genau dorthin führte sie der Mann aus Stein, wobei
er laut und viel redete. Nicht mit ihr, sondern mit den Leuten rundherum.
Fahrah schaute sich um. Es ging alles sehr ruhig und gesittet zu auf dem
Platz, auch wenn die Männer rundherum manchmal heftig mit einander
redeten und gestikulierten. Alle schauten sie her, wenn sie und der Mann
aus Stein vorübergingen, und lächelten. Manche nickten und riefen
dem Mann aus Stein etwas zu.
Am Rande des Platzes standen Soldaten-Männer, daneben still und stumm,
zwei metallene Ungeheuer.
Jemand in einem grauen Overall mit orangen Streifen rief laut über
den Platz, ruderte dabei mit den Armen: "Schwenkt von den Soldaten
auf die Tische mit den Wahlurnen!
Und ihr, gebt schon mal Licht auf die Verrückte", rief er den
Leuten hinter den hellen Laternen zu. Dann kam er näher und fragte
den Mann aus Stein: "Wird sie sich auch ruhig verhalten, Yoatawi?"
"Aber sicher doch", antwortete der Doktor. "Du bist ein
liebes Kind, nicht wahr, Fahrah? Wenn du brav bist, fahren wir anschließend
zu Dr. Wei in die Klinik. Sie wird dich wieder gesund machen, wirst sehen."
"Was willst du denn mit der im Krankenhaus?", fragte einer der
Männer dahinter, als sie an die Tische herantraten. "Haben die
Chinesischen denn nichts Wichtigeres zu tun?"
"Ach, mich dich nicht ein", antwortete der Steinmann-Doktor.
"Ich habe Dr. Wei versprochen, jemanden aus dem Norden zu ihr zu
bringen. Sie interessiert sich für solche Leute, die den Blitz gesehen
haben. Und Fahrah hier hat ihn gesehen. Was glaubst du, warum sie so ist,
wie sie ist, he?"
Jemand kam heran und drückte fahrah einen Zettel in die Hand: grün,
weiß, rot. Fahrah betrachtete das Stück Papier, drehte es um
und um und zerriß es dann. Weiß und Grün mochte sie nicht.
Das Stück ließ sie zu Boden flattern. das rote Stück aber
behielt sie in der Hand.
"Zum Teufel, gebt ihr einen neuen Stimmzettel", rief jemand
aus dem Hintergrund.
Der Doktor nahm Fahrah bei der Hand und ging mit ihr zu einem Alten, dessen
krause Haare schon grau wurden. Auf einer kleinen Kiste saß er hinter
einem kleinen, grünen Kasten mit einem schmalen Spalt oben. "Hier,
stecke das Papier hier hinein, Fahrah", sagte jemand und drückte
ihr erneut einen dreifarbigen Zettel in die Hand.
Fahrah wollte ihn nicht. Sie hatte schon ihren roten Streifen Papier.
Wieder ließ sie den Zettel einfach aus der Hand gleiten, hielt aber
ihr rotes Papier fest. Der große Wahlzettel fiel zuerst auf die
grüne Box und dann mit einem kleinen Windstoß an den Tischen
entlang zu Boden.
Einer der Männer hob ihn auf, kam zu ihr zurück, drehte sich
dann zu den anderen um, verbeugte sich leicht in mehrere Richtungen, wobei
er das Papier mit beiden Händen leicht über seinen Kopf hochgehoben
präsentierte. Dann ergriff er Fahrahs Hand und zusammen steckten
sie das Papier in die grüne Box.
Alle Leute rundherum applaudierten. Der Mann ließ sie los und schaute
verstört in die Runde.
Dann verbarg sie ihr Gesicht vollständig im Tuch, das Mutter ihr
über die Haare gelegt hatte.
Niemand bemerkte, daß sie sich hinter dem Tuch versteckt hatte.
Niemand bemerkte auch, daß sie sich hinter die Männer duckte,
die laut redend zusammenstanden, niemand bemerkte, daß sie hinter
die Büsche am Rande des Platze huschte, um sich dort zu verbergen.
Nur der Doktor-Mann aus Stein. "Fahrah!", rief er, "Fahrah,
komm zurück!"
Aber konnte sie nicht finden. Fahrah stand still, machte sich dünn
und unsichtbar. Zwischen den Zweigen hindurch konnte sie sehen, wie der
Doktor sich suchen umblickte, mit den Männern redete, in ihre Richtung
deutete. Dann aber suchte er nicht weiter, sondern stieg in seinen grauen
Kasten und fuhr davon.
Niemals würde er sie finden, sagte sich Fahrah. Niemals.
Ein Zweig knackte. Sie drehte sich um und erschrak.
Hinter ihr stand ein helläutiger Geist-Mensch.
Fahrah schrie.
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