Verkehrsunfall

 

R. Hugh

 

In der immer tiefer werdenden Dämmerung sahen wir zuerst gelber Warnlampen, dann Blaulicht. Ken bremste so stark , dass Angie und ich uns festhalten mussten, damit wir nicht gegen die Frontscheiben geschleudert wurden. Hinter uns gab Susan einen kleinen schrillen Schrei von sich. Sie war vom Sitz gerutscht und hatte sich weh getan.
"Es geht", sagte sie, nachdem sie sich den Arm gerieben hatte und wieder zurück auf ihren Sitz rutschte.
Dann sahen wir die Polizisten, die Kellen schwenkten, alle Fahrzeuge auf die Überholspur der Gegenfahrbahn winkten. Sie hatten einige Teile der trennenden Leitplanken entfernt. An dieser vierspurig ausgebauten Bundesstraße gab es keinen grünen Mittelstreifen. Ken konnte nur noch im Schritttempo fahren, mitten in einer Kolonne, vorbei an verformten Karosserien, vorbei an vier Leibern unter Decken, die in einer riesigen Blutlache auf der Fahrbahn lagen, vorbei an drei Polizeiautos, vorbei an einem Notarztwagen, vorbei an einem wartenden Sanitätsfahrzeug – irgendwo seitlich der Straße blitzten gelb-orange die Warnlichter, war Schreien und lautes Brummen zu hören. Wir hatten die Fenster geöffnet. Es war eine laue Sommernacht. Vorbei, vorbei.
"Am liebsten würde ich umkehren...", murmelte Ken. "Fahr weiter", sagte Susan von hinten und legte wie zur Beschwörung eine Hand auf seine Schulter.
"An jedem Tag sterben bei uns 40 oder mehr Menschen auf diese Weise. Du hast es nur noch nie gesehen. Dass du es jetzt siehst, ist ein Zufall", ergänzte ich. "Wenn du weiterfährst, fährst du vom Tod weg, statistisch gesehen.
"Daniel, du bist unmöglich! Du und deine ewigen Statistiken!", meinte Angie und boxte mich mit der Faust in die Seite. Ich schwieg.
"Fahr nicht so schnell! Du weißt genau, dass du ein bisschen zu viel getrunken hast."
"Ach sei still!"
Der Motor brummte regelmäßig, die Reifen sirrten auf der Straße. Sie schaute nach hinten. Die beiden dort schienen nichts zu bemerken und waren mit sich selbst beschäftigt. Sie hörte sie leise murmeln, konnte aber über dem Motorengeräusch nichts verstehen. "Bitte fahr nicht so schnell", wiederholte sie, "auch wenn die Straße hier vierspurig ausgebaut ist.
"Sei jetzt endlich ruhig, oder ich setz’ dich auf die Straße!"
Sie schwieg und klammerte sich fest an den Türgriff.
"Verdammt", sagte er, "der blendet mich." Seine Hände drehten in einer Reflexbewegung leicht am Lenkrad nach rechts, aber zu schnell, zu ruckartig. Reifen quietschten, das Auto geriet in eine heftige Drehbewegung, alle vier wurden herum geschleudert, dann tat es einen Schlag gegen das Bodenblech. Der Wagen holperte, der Motor heulte auf, sie standen kurz Kopf. Als sie wieder auf der Straße aufschlugen, waren sie auf der bergwärts führenden Gegenfahrbahn. Vor ihnen blitzten zwei Lichtpunkte auf, wurden ihn wahnsinniger Geschwindigkeit größer. Die Gespräche hinten waren verstummt.
Sie schrie hysterisch schrill. Er war unfähig auch nur eine Bewegung zu machen, hörte nur quietschende Reifen und ihren Schrei, der nicht aufhören wollte, aufhören wollte, aufhören wollte, aufhören... nie mehr.
"Kommt jetzt. Verabschiedet euch langsam. Ich will noch vor der Tagesschau zu Hause sein. Kathi, sag schön ‘Auf Wiedersehen’ zu Opa."
"Widasehn, Opa"
"Auf Wiedersehen, Kathi. Und sei lieb, hörst du! Musst Mammi und Vati immer schön gehorchen. Versprichst du mir das?"
Kathi nickte eifrig. "Jaaa.
Thomas stürmte schon die Treppe hinunter.
"Wie lange denkst du, dass ihr fahrt?"
"Als wir herfuhren, brauchten wir ein bisschen mehr als drei Stunden."
"Na ja, dann reicht es bequem nach Hause. Fahrt vorsichtig, ja!"
Karl nickte. "Tschüß Vater. Mach’s gut! Mutter? Wo steckst du denn?"
"Hier sind wir", hörte er Lydias Stimme aus der Küche. Sie verabschiedete sich von seiner Mutter.
"Schaust du noch mal nach den Kindern, damit sie keinen Unsinn machen?!"
"Klar." Lydia ging hinaus, verabschiedete sich im Flur von seinem Vater und ging dann die Treppe nach unten.
Auch Karl sagte ‘Auf Wiedersehn’, hörte sich noch die guten Ratschläge seiner Mutter an und folgte dann Lydia die Treppe hinunter.
"Und fahr vorsichtig, Junge!", rief seine Mutter nochmals von der Wohnungstüre aus ins Treppenhaus.
"Ja, Mutter", rief er zurück. "Wenn es dunkel wird, wird sowieso Lydia fahren. Du weißt doch, ich bin nachtblind."
"Schaut, Opa und Oma winken vom Balkon", sagte Lydia zu den Kindern, als sie losfuhren.
Das Schreien der Frau hörte nicht auf. Im andern Auto wimmerte ein kleines Mädchen. Im selben Wagen dudelte ein Radio Volksmusik. Es hatte den Aufprall seltsamerweise heil überstanden, obwohl das Fahrzeug nur noch ein Berg aus Schrott war. Es stank nach Benzin. Den Berg hinauf und hinab bildeten sich lange Autoschlangen auf beiden Fahrspuren. Lichterketten die man weithin sehen konnte. Einige Männer versuchten, den Verkehr flüssig wenigstens an der Gegenfahrbahn zu halten, scheiterten aber an der Neugier der Menschen. Bergabwärts rollte der Verkehr im Schritttempo an der Unfallstelle vorbei. Neugierige Gesichter pressten sich an die Scheiben.
Frauen und Männer, sogar einige Kinder, alle standen sie hilflos vor den Wracks. Blut tropfte auf die Straße und bildete große rote Flecke und kleine Rinnsale. Sie konnten nichts tun. Sie hatten es versucht. Die Türen waren nicht aufzubekommen, und durch die Fenster kam man nicht an die Verletzten heran, Wahrscheinlich konnte man für einige schon nichts mehr tun. Es war verdächtig still in den Wracks. Nur die Frau schrie, manchmal lauter, manchmal leiser. Und das kleine Mädchen wimmerte.
Zwei Männer versuchten sich noch immer an einer Tür, die leicht nachgab, aber dann klemmte. Irgendwoher hatten sie eine Eisenstange bekommen. Aber damit erreichten sie nur, dass das Blech sich noch mehr verbog.
Dann sah man unten im Tal blaue Lichter aufblitzen.
Jemand nahm den Hörer ab, warf zwei Münzen in den Automatenschlitz und wählte: 110. Fast sofort wurde auf der anderen Seite der Leitung abgehoben. Ein Tonband schaltete sich ein und zeichnete das Gespräch auf.
"Ein Unfall, ganz schrecklich! Viele Verletzte!"
"Augenblick bitte. Ganz ruhig. Sie sind wer?"
"Hahnemann. Ein Unfall, schnell!"
"Vorname:?"
"Wolfgang. Was soll das? Ich bin doch unwichtig. Der Unfall..."
"Jetzt beruhigen sie sich doch erst mal. Der Unfall ist wo passiert?"
"Auf der B 531, an der Steige, dort wo sie vierspurig ausgebaut ist. Es sind sechs oder mehr Verletzte. Die sind vielleicht schon tot!. Man muss die Türen aufbrechen. Man kommt nicht an sie ran!"
Der Polizist am anderen Ende drückte auf mehrere Knöpfe an seinem Pult und gab Alarm.
"Von wo rufen Sie an, Herr Hahnemann"
"Wo ich bin, weiß ich nicht genau. Ach ja hier steht’s. Telefonzelle Winklarn zwei. Ich fahre wieder an die Unfallstelle."
"Wir sind bereits unterwegs. Jetzt hätte ich noch gerne ihre Heimatadresse, Herr Hahnemann."
"Rabe 10-601 an alle", hörte man eine Stimme im Hintergrund, "Wer in der Nähe von Kilometer 14 bis 15,.5 auf der B 531 ist, bitte melden."
"Hier Rabe 10-6-24." "Hier Rabe 10 -6-19."
"Fahren Sie bitte zur Unterstützung von Rabe 10-609 zu einer Unfallstelle bei Kilometer 14 bis 15.5. Leiten sie den Verkehr gegebenenfalls in Winklarn und Oberdraken um über Höflingen und Gutenlaub. Feuerwehr und Rotes Kreuz sind bereits alarmiert und unterwegs. Bitte vom Einsatzort melden. Ende"
"Verstanden. Ende" "Wir sind unterwegs, verstanden. Ende"
Der Polizeibeamte schaltete zurück auf Empfang.
Im Krankenhaus saß ein Rotkreuzhelfer vor seinem Funkgerät.
In der Feuerwache von Winklarn saß ein Feuerwehrmann am Funkgerät. Wenn die Wagen nicht brannten, gab es für ihn nichts mehr zu tun. Der Unfallrettungswagen war unterwegs: "URW 1 an Zentrale. Sind am Unfallort. Sieht schlimm aus, Wir müssen die Wagen mit der Blechschere aufschneiden. Brauchen keine weitere Hilfe. Ende.
"Verstanden. Ist die Sanka schon da? Ende"
"Kommen gerade angefahren. Ende. "
"Verstanden. Ende", antwortete der Mann bei der Feuerwehr. Wie es draußen wohl aussah?
Mutti, ist das Abendessen schon fertig?"
"Nein noch nicht ganz. Karl und Lydia werden jetzt bald zu Hause sein, nicht?"
"Ja, ich denke. Sie sind jetzt zweieinhalb Stunden weg. In einer halben oder dreiviertel Stunde sind sie daheim, wenn der Verkehr nicht zu stark war. Was gibt es den Gutes? Das riecht fein. "
"...UKW drei, die Service Welle für Autofahrer. Hier eine Mitteilung der Polizei. Die Bundesstraße 531 ist zwischen Winklarn und Oberdraken im vierspurigen Streckenabschnitt Winklarner Steige nur zweispurig zu befahren, Infolge eines Unfalls bilden sich in beiden Fahrtrichtungen lange Staus. Die Polizei empfiehlt Ortskundigen über die Landesstraße 1432 und örtliche Straßen auszuweichen. Die Behinderung auf dem genannten Streckenabschnitt dürfte noch bis nach 21 Uhr andauern. Weitere Meldungen über Verkehrsstörungen liegen uns derzeit nicht vor."
"Ja, liebe Autofahrer, fahren sie recht vorsichtig. Bleiben sie weiter auf dieser Welle eingeschaltet. Wir informieren sie ständig über die neueste Lage im Straßenverkehr. Wir wünschen Ihnen einen sicheren Heimweg und weiterhin gute Unterhaltung. Sie hören zunächst die Gruppe ‘Small Faces’ mit ihrem Hit ‘Lazy Sunday’, anschließend das ‘Orchester Max Greger’ mit dem ‘Beatles’ Evergreen ‘Yesterday’..."
"Hier Wagen 5, kommen"
"Zentrale hört"
"Fordert bitte sofort einen Hubschrauber an. Transport von zwei schwerverletzten Personen in die Uni-Klinik. Wir haben da sehr wenig Hoffnung."
"Verstanden."
"Und ruft im Krankenhaus die ganzen Chirurgen zusammen. Wir bringen ein kleines Mädchen und einen jüngeren Mann. Beide vermutlich Schädelbasisbruch und weitere Knochenbrüche, innere Verletzungen im Bauch und Brustbereich. Beide schweben in Lebensgefahr. Kommen. Ende."
"Verstanden, Wagen 5. Wird veranlasst. Jochen ist bereits raus. Hermann, wie sieht es draußen aus...?
"Richard holt sich gerade die Unterschrift des Notarztes, der unsre beiden Patienten für transportfähig erklärt hat. Augenblick , er kommt!"
Türenschlagen. "Wir fahren jetzt los. Ende "
"Hier Zentrale. Und? Was ist sonst?"
"Hier Wagen fünf. Hans, lassen wir das. Es ist grauenhaft. Vier Tote. Die Eltern von einem Jungen und einem kleinen Mädchen darunter. Das Mädchen bringen wir. Der Junge geht mit dem Hubschrauber in die Uniklinik. Dazu eine junge Frau aus dem andern Auto. Die Feuerwehr musste alle herausschneiden. Ende."
"Verstanden. Ende."
Das Schreien der Frau hatte aufgehört, kurz bevor die Feuerwehr mit der Blechschere eintraf. Sie war tot, als ein Feuerwehrmann den zerfleischten Körper aus dem Wrack holte, Vier Leichen lagen am Ende auf der Straße in Blutlachen, die langsam auf dem Asphalt trockneten, Neugierige drängten sich um die total zerstörten Autos, um die Toten auf der Straße. "Jetzt tretet ihnen doch vollends ins Gesicht, falls ihr noch erkennen könnt, wo es ist", schimpfte ein Feuerwehrmann erbost. "Die Leute wichen zurück, mit jenem aus Neugier, Nervenkitzel und Angst gemischten Blick in den Augen. Ein Polizeibeamter kam, herrschte die Menschenmenge an und drängte sie noch weiter zurück. Dann stellte er sich mit dem Rücken zur Menge und zog ein rotweißes Band von einem Absperrpfosten, an dem eine gelbe Lampe blitzte, zu sich her. Nicht lange, und der Beamte musste einen schritt nach vorne machen, geschoben, gepufft, gestoßen von der neugierigen Menge.
Orange Lichter in der Luft. Polizeibeamte, die mit farbigen Lichtern ihre Arme kreisten, ein Brummen, das zum kreischenden Lärm wurde, eine Magnesiumfackel, die einen freien Straßenabschnitt oberhalb der Wracks erhellte. Ein Fotograf, der Bilder schoss. Und neben ihm ein langhaariger junger Mann, der auf die Wracks zeigte, mit den Händen Bildausschnitte anzeigte, die der Fotograf aufnehmen sollte. Doch der kümmert sich eigentlich kaum darum, was der junge Mann anzeigte, sondern blitzte an alles, was er vor die Linse bekam. Presseleute.
Der Hubschrauber landete.
Dann ließ die Polizei den angehaltenen Verkehr auf der talabwärts führenden Straßenseite wieder langsam an der Unfallstelle vorbei. Gesichter, die sich an die Scheiben drückten, um in der beginnenden Nacht etwas zu erkennen. Die Feuerwehrleute hatten Scheinwerfer aufgestellt, um den Unfallschauplatz für die Rettungskräfte zu erhellen.
"In der tiefer werdenden Dämmerung sahen wir zuerst gelbe Warnlichter", erzählte Ken, "und ich dachte zuerst, da sei ein Wagen liegen geblieben. Aber dann hab ich die Blaulichter gesehen..."
"Ist noch etwas von dem gegrillten Steak da?"
"Aber sicher", erwiderte der Hausherr. Ich hörte es, weil ich nahe dabei saß und mir zusammen mit Angie den Mond anschaute. Über die Büsche und den Rasen hinweg warf er sein Licht. Fleisch brutzelte über dunkelrotem Glühen auf dem Gartengrill. Musik drang aus der offenen Glastür vom Wohnzimmer her. Wirklich dufte Party.
Auch ich sah wieder die Blaulichter vor mir, während Ken erzählte. Ich bin froh, dass ich nicht in einem der Unfallautos saß. "Ken wollte umkehren und jetzt erzählt er davon, als hätte er nur einen Krimi gesehen", flüsterte ich Angie zu. Sie wandte mir ihr Gesicht zu und grinste.
"10-609 ruft Rabe."
"Hier Rabe."
"Bitte 10-601".
"Augenblick".
"Hier !0-601"
"Hier Rabe. Bitte sprechen Sie mit 10-609. 10-609, bitte kommen."
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"10-609 bitte kommen."
"Hier 10-609. Die Namen der Toten.... bitte veranlassen Sie , dass jemand nach den Angehörigen schaut.
Dem Fahrer des Wagens ... HT 348 sollte eine Blutprobe entnommen werden. Die Leichen kommen in die Kühlkammern bei uns auf den Heiligenäckern. Welcher Bestattungsunternehmer ist denn zu erreichen? Bitte kommen."
"Augenblick. Der Burkard glaube ich."
"Na dann schickt ihn raus. Er soll mit zwei Autos kommen. Und ruft beim Rundfunk an, der Stau dürfte sich bis in einer Stunde aufgelöst haben. Abschlepp Langer hat gerade das letzte Wrack aufgeladen."
Unterm Sauerstoffzelt im Krankenhaus erwachte ein kleines Mädchen, das Kathi hieß. Es fühlte nichts außer Schmerzen und schwere Verbände um den Kopf, am rechten Arm, um die Hüfte und an beiden Beinen. Es sah nichts außer Dunkelheit, murmelte benommen und ganz leise "Mama". Dann fühlte es nichts mehr. Nie wieder etwas.

 

 

 

© 1974

(product verlag )
ernst-walter hug
schwäbisch hall

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