Wer geht schon zurück

 

R. Hugh

 

Die Bogenlaterne streckte ihren Lichtfinger in die Nacht, ein breit aufgefächertes, diffuse Etwas vor schwarzem Hintergrund. Es wogte darin wie Algen in der schwachen Meeresströmung. Fliegen, Mücken, Motten, irgend etwas
Die Dinge tanzten auf und ab in einem immerwährenden Durcheinander, und Astrid starrte dorthin, in dieses wogende Auf und Ab. Ihr Atem verschleierte das Fenster vor ihrem Gesicht. Ab und zu blitzte ein Flügel schimmernd hell auf im Licht, flog etwas Kleines blitzschnell auf die Quelle der hellen Flut zu, verschwand im Dunkel dahinter...
Astrid starrte, ließ ihre Gedanken mit wogen in diesem schimmernden Reigen. Leise klang Musik hinter ihr aus dem Dunkel. "On the Road to Find Out"... Nein, auf der Straße war sie nicht. Nur hier in diesem Hotel, wo sie alleine war, weg von Waika..., auch weg von Niki..., noch weiter weg.
Wie Schatten wirbelten die Gesichter vor ihrem Auge.
Waika. Sie versuchte, das Gesicht festzuhalten, aber es zerfloss in einem Wirbel, der alles einschloss und doch nichts zurückließ.
Leere.
Waika. Sie versuchte, den Namen festzuhalten. Was blieb war der Gedanke an eine Stadt, eine andere Stadt, Hunderte von Kilometern weiter im Süden.
Sie hatte sich gefreut auf diese sechs Wochen hier, in einer fremden größeren Stadt. Sie hatte sich darauf gefreut, andere Leute kennen zu lernen, Kolleginnen und Kollegen, die denselben Beruf ergriffen hatten, wie sie. Ihren Beruf, Hier auf diesem Kurs wollte sie lernen, musste sie lernen. Lernen, lernen, lernen. Sie wollte mehr wissen, mehr erfahren, mehr!... Über das alles...
Und sie wollte loskommen. Von allem.
Astrid drehte sich vom Fenster weg, ging in die Dunkelheit, Nach einer kleinen Weile ertönte zum zweiten Mal "On the Road to Find Out"...
Wiederholung.
Was wollte sie herausfinden?
Irgend jemand klapperte draußen auf dem Flur mit Holzschuhen an ihrer Zimmertür vorbei.
Astrid setzte sich mit dem Rücken zur Wand aufs Bett und starrte in das helle Viereck des Fensters, faltete die Hände zusammen, presste die Finger gegeneinander, bekämpfte ihre innere Unruhe.
Die Stadt weiter im Süden!
Die Sache mit Martin, dann Danny und Waika... jetzt Waika!... Niki? Niki war ein Dummkopf, Ein lieber Dummkopf. Warum bloß hatte er sie gefragt, ob...?
Nein. Niki war nicht selbst schuld. Die Ereignisse hatten ihn gezwungen, so auf sie zu reagieren. "Ich bin ein Satellit, der um dich kreist", hatte er gesagt.
Nein, Niki, du sollst kein Satellit sein. Wie zerschneidet man solche Fesseln? Niki. Du musst noch viel mehr lernen als ich. Ich wünschte mir, dass du mir auf meinem Weg folgen könntest. Aber bist du auch fähig dazu? Manchmal zweifle ich daran. Du bis so...
"Get on, get on, and it seems that she can’t get off..."
Nur eine Textzeile aus jenem Lied.
Und Waika?
Waika war Sicherheit, Waika war Zuflucht, Waika war... was eigentlich? Sanft glitt Astrids Körper an der Wand entlang, bis sie mit angezogenen Beinen auf dem Bett lag. Sie schloss die Augen und die Wirbel waren wieder da.
Die kleine Stadt. Ihr Elternhaus. Niki. Ihr kleiner Bruder. Der Club. Ihre Freunde. Langeweile.
In dieser kleinen Stadt konnte sie nicht mehr leben.
Ich dachte, ich hätte damit abgeschlossen. Nein. Abschließen konnte man damit nicht. Man konnte nur ausbrechen und den Willen haben, nicht mehr zurück zu gehen. Wer geht schon zurück?
Dann war da Nichts. Nur Ruhe und ein sanftes Schweben. Ein Gedanke an den morgigen Tag, an die Vorlesung, an eine Fahrt im Auto. Waika. Ein Raum voll junger Menschen. Literaturgeschichte.
Ich wollte Niki die Adresse geben. Ich habe es vergessen. Er soll seine Geschichten veröffentlichen können. Ich hab’s vergessen. Nikis Geschichten...
Vielleicht kann ich Niki so helfen, weiter zu kommen. Er hat sich festgefahren. Ich muss ihm unbedingt die Adresse von K. geben. K. wird seine Geschichten zumindest lesen.
Niki ich hab’s nicht vergessen.
Warum kann Niki eigentlich Waika gut leiden?
Niki ist seltsam.
Niki hat das Drehbuch für Waika fertig geschrieben. Bin ganz gespannt, was aus dem Film wird. Es war Nikis erstes Drehbuch. Der Club. Niki nippt an seinem Glas, prostet Waika zu... Waika, jetzt!
Niki. Es ist der einzige Weg, die Fesseln zu durchtrennen. Vielleicht bist du jetzt frei?
Träumte sie bereits? Astrid schlug die Augen auf. Düsternis im Zimmer, mit einem leichten Schimmer aus grün. Die Bogenlaterne draußen auf der Straße erhellte das Zimmer schwach. Astrid richtete sich auf, tastete nach den Streichhölzern und Zigaretten auf dem kleinen Nachttisch. Die Flamme, der erste Rauch...
Astrid blies die Flamme aus, stand auf und ging zurück ans Fenster.
"Lisa, Lisa... I do what I can... no-one can see her... Lisa, Lisa, sad Lisa... Astrid öffnete das Fenster, ging dann zurück zum Bett. Wie ein Schleier aus Spinnfäden bewegte sich der Vorhang im Nachtwind. (Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!) Sie überließ sich wieder dem Strömen ihrer Gedanken. Rauchte. Gedankenverloren.
...und morgen?
Das andere Morgen?
Astrid sah nur Leere. Eine Leere, erfüllt von Wünschen, erfüllt von einem... Willen? Sie wollte. Sie wollte etwas. Sie wollte etwas daraus machen. Da war Waika.
Man konnte nicht Dinge abbrechen, ohne etwas anderes zu wollen.
Karriere? Karriere war nicht genug.
Wo stehe ich in diesem Morgen? Die Frage bohrte. Und die Gedanken flossen tiefer, dunkler, unergründlicher. Irgendwo dort gab es Waika... Nicht Waika... nur irgend jemand. Geborgenheit.
Asche fiel aufs Bett. Astrid blies in die Dunkelheit, wischte mit der Hand, tastete nach dem Aschenbecher.
Ein Auto draußen.
Mach die Augen zu. Ruhe ist so herrlich.
Und irgendwo waer dort Niki. Unfassbar.
Das Bild einer Kollegin. Das Mädchen redete zu viel. Ich bin so klein. Alle anderen sind so stark. Sie wissen alle...
Ich weiß nicht.
Nein. Ich muss mich nicht fürchten. Ich will stark werden. Ich will!
Sie drückte die Zigarette aus und stellte den Aschenbecher zurück ins Dunkel. Glas auf Glas. Ein Geräusch in der Stille. Sie ließ sich zurückfallen ins Kissen. Und unter ihren Augen strömte das Leben... .

 

 

 

© 1975
(July, SHA am Markt 2)

(product verlag)
ernst-walter hug
schwäbisch hall

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